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Für Krieg gibt es keine guten Gründe
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Novemberrevolution Deutschland 1918,
Neues Deutschland 29./30. Mai 1999
West-Ost-Gefälle: Warum die einen für den Krieg, andere
dagegen sind
Für Krieg gibt es keine guten Gründe
Von Prof. Dr. Kurt Starke
Warum, so werde ich gefragt, sind weit mehr Ost- als
Westdeutsche gegen den Krieg? Daß jemand gegen den Krieg ist, antworte ich, muß nicht
erklärt und gleich gar nicht gerechtfertigt werden. Krieg abzulehnen ist die normale,
ursprüngliche Haltung vernunftbegabter Menschen, kein Makel und schon gar keine Macke der
Ostdeutschen. Was mich interessiert und auch irritiert, ist, weshalb jemand f ü r diesen
Krieg sein kann. Ich denke dabei nicht an Machtpolitiker, Feldherren und
Rüstungsfabrikanten, sondern an die sogenannten einfachen Leute. Und dann erst an die
Ost-West-Unterschiede.
Hätte mir vor zehn Jahren, als die Leipziger auf der Montagsdemo "Keine Gewalt"
auf ihren Lippen und in ihren Herzen hatten, jemand geweissagt, über kurz oder lang
würden wenigstens einige von ihnen militärischen Gewalt gegen ein Volk befürworten, ich
hätte es nicht geglaubt. Nicht nur der erhebende Augenschein der Gewaltlosigkeit, sondern
auch alle unsere empirischen Untersuchungen (des Zentralinstituts für Jugendforschung
Leipzig) boten keinerlei Anhaltspunkte für eine solche Prognose. Frieden war von allen
außerindividuellen Werten das mit Abstand höchste Gut. Friedenspolitik wurde als erster
Vorzug eines Staates betrachtet und für die DDR als ganz selbstverständlich angesehen.
Nie wieder Krieg, für Abrüstung, für friedliche Koexistenz - das waren Grundhaltungen
von Alt und Jung, Frau und Mann. Daß von der DDR und von deutschem Boden nie wieder ein
Krieg ausgehen darf, war gemeinsamer Nenner sowohl derer, die sich - kritisch oder
unkritisch - mit der DDR identifizierten, als auch derer die sie ablehnten. Bomben auf
Belgrad? Undenkbar.
Jugoslawien, das antistalinistische, politisch-ökonomisch kreative, war für die
DDR-Bürger interessant und nicht zuletzt ersehntes Urlaubsziel. Diejenigen, die das
seltene Glück hatten, an die Jugoslawische Adria reisen zu können, kamen friedfertig.
Wie ist der Sinneswandel zu erklären? Ich behaupte: Die Haltung zum Krieg sagt etwas
über das Niveau der politischen Bildung und über den kulturellen und ethischen Zustand
einer Gesellschaft und ihrer Untergruppen aus. Ein Mangel an politischer Bildung
korreliert mit Manipulationsgefährdung.
Gute Gründe für einen Krieg gibt es nicht. Benjamin Franklin schrieb 1773: "There
never was a good war or a bad peace" (Es gab nie einen guten Krieg oder einen
schlechten Frieden). Aber jeder Krieg braucht eine moralische Begründung. Diese
Begründung muß konstruiert werden. Sie muß emotionalisieren. Menschen, die sie
annehmen, müssen sich dabei gut fühlen. Kein Mensch, sofern er nicht ganz verdorben oder
verbohrt ist, könnte es ertragen, aus rein persönlichen Gründen Bomben auf England,
Saigon, Bagdad oder Belgrad zu werfen. Es müssen außerindividuelle, edle, höhere Zwecke
gesetzt werden (diesmal Menschenrechte, Verhinderung einer humanitären Katastrophe, Kampf
gegen Faschismus). Da Menschen für das Gute und gegen das Böse sind, ist es logisch,
daß sie , sofern sie sich den manipulativen Begründungen nicht entziehen, schweren oder
leichten Herzen für den Krieg sind. Sie dürfen dabei auch selbst, ganz persönlich,
Gutes tun: spenden.
Der Spendenappell ist ein besonders perfider Teil der psychologischen Kriegsführung. Es
wird damit ja tatsächlich Notleidenden geholfen (wenn es auch nur ausgewählte
Notleidende sind, denen auch viel effektiver geholfen werden könnte, wenn man ihnen nur
einen Teil der Kriegsgelder zukommen ließe oder wenn man gar frühzeitig die Ursachen der
Not beseitigen würde). Das Entscheidende freilich ist, durch Spenden emotionale
Dissonanzen aufzubauen und den Spendern das Gefühl zu geben, auf der guten Seite zu
stehen. Zudem festigt die Spende den eigenen, überlegenen Status und hebt das
Selbstwertgefühl. Spenden ist hierarchisch, der eine gibt, der andere empfängt. Der
Geber ist stark und oben, der Bettler ist schwach und unten.
Gutherzige, willige Spender gibt es in Ost und West, aber die Ostdeutschen sind
skeptischer. Manche von ihnen sehen vielleicht ihr Lebenssoll an Solidaritätsspenden als
erfüllt an, fühlen sich überrumpelt, genötigt, oder besitzen eine Abneigung gegen ein
Spendenwesen, das ihnen heuchlerisch erscheint. Die psychologische Kriegsführung der NATO
repräsentiert westliches Denken und westliches Lebensgefühl. Das mag einer der Gründe
dafür sein, daß die Kriegswerbung im Westen besser als im Osten ankommt.
Dennoch, die Bilder, Wertungen und Begründungen, die geboten werden, wirken auch im
Osten. Der einzelne ist damit überfordert, Information und Desinformation, Lüge und
Wahrheit voneinander zu unterscheiden oder Zusammenhänge zu verstehen, die vernebelt sind
oder vernebelt werden. "Im längsten Frieden", sagt Jean Paul 1806, wird
"nicht so viel Unsinn und Unwahrheit wie im kürzesten Krieg" gesprochen. Zu
sprechen ist vom Vertrauen in das gedruckte Wort, in Pressefreiheit, in die bestehende
Ordnung und in die Regierung, die ja gewählt wurde. Wer sie gewollt hat und sich mit ihr
identifiziert, der kann nun schlecht nein zu ihr sagen. Gegen diesen Krieg zu sein,
bedeutet ja letztlich, in Opposition zu gehen, sich in Widerspruch zu setzen zur
herrschenden Meinung, sich in Konfrontation mit der Obrigkeit zu begeben. Dem Osten ist
das zwar aus der jüngsten, diesbezüglich erfolgreichen Geschichte nicht fremd, aber
dennoch: Das ist nicht jedermanns Sache und im Westen sowieso irrelevant für diejenigen,
die ihre Ordnung für die beste aller möglichen halten. Die Identifikation mit den USA,
mit dem Westen ist in den alten Bundesländern in spezifischer Weise gewachsen. Der
Bundesbürger ist mit dem Marshall-Plan groß geworden. Er wußte, auch wenn einige heftig
protestieren, mit den Militäraktionen seiner Supermacht zu leben. Das Gros der
DDR-Bürger lehnte sie ab. Dies wirkt zweifellos nach: Das andere Verhältnis zu den USA
geht auch mit einem anderen Verhältnis zu USA-Kriegen einher. Insofern ist das
ostdeutsche Verständnis von Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit schon spezifisch: Es
schließt Kriege gegen andere Völker aus, und es wird auch nicht gedankenlos von der
Obrigkeit übernommen.
Kriegsbefürwortung ist nicht zufällig, willkürlich, bloße Charaktersache. Sie wird
getragen von einer sozialen Schicht und folgt sozialpsychologischen Mechanismen und
Normensetzungen. Diese Schicht ist im Westen qualitativ und quantitativ anders als im
Osten. Im Grunde mußte ihr Kern von 1914 über 1939 bis 1999 gar nicht umdenken. Man
geht, trotz zwischenzeitlicher Irritationen, ganz selbstverständlich davon aus, daß
fremde Länder kriegerisch nicht tabuisiert sind, daß die Deutschen auserwählt sind,
Ordnung zu schaffen. Bestimmte nationale Stereotype wurden nie überwunden: die
Stigmatisierung des Balkans als Dreckecke Europas, die Abwertung des Slawischen. Diese
Schicht setzt auch darauf, daß jetzt, da in Europa die Karten neu gemischt werden,
Deutschland dabei sein muß (Verantwortung übernehmen). Das Völkerrecht und andere
Rechter werde gebrochen, der (moralisch begründete) Krieg erlaubt alles. Silent leges
inter arma, im Krieg schweigen die Gesetze (Cicero).
(Groß)deutsches Denken hatte im Westen eine bessere Überlebenschance, und Ostdeutsche,
die zu einem solchen Denken neigten und in den Westen gingen, mindern die Zahl der
ostdeutschen Kriegsbefürworter. Sie konnten auch nicht neu wachsen, weil dafür einfach
die soziale Basis fehlte. Es kann daher nicht verwundern, daß es im Osten insbesondere
die Alten, die sich gegen den Krieg aussprechen. Die Jungen sind nicht nur einfach
deswegen häufiger für den Krieg, weil sie ihn am eigenen Leibe nicht erfahren haben,
sondern weil sie in anderen gesellschaftlichen Verhältnissen aufwachsen. Verhältnisse,
die ihnen viele Vorteile bieten, auch in bezug auf den Krieg: Der Koch, der nach seiner
Lehre keine Stelle bekommen hat, aber nun in Bosnien als Bundeswehr-Koch gut verdient, ist
nicht gegen den Einsatz in fremdem Land, bei dem er zudem noch viel erlebt.
Krieg bietet eine Perspektive, stiftet Sinn, schafft klare Verhältnisse. "Der Krieg
erhebt ein hohes Kraftgefühl in jeder Brust" (Joseph Freiherr von Auffenberg,
Bartholomäusnacht, 1847). Krieg hat, jedenfalls zunächst, nicht nur die schreckliche,
blutige, tödliche Seite, sondern bedeutet auch Abenteuer, Ausbrechen aus dem Alltag,
Sinnessteigerung, er "ist dem Trunk und Wahnsinn gleich, der (nach Seneca) nur die
Sünden enthüllt, nicht erzeugt" (Jean Paul). Für den Krieg zu sein, heißt, eine
liberale Einstellung zu Gewalt zu haben. Ostdeutsche erleben seit der Wende mehr Gewalt,
im Alltag und in den Medien. Die Schwelle zur Gewalt ist bei den ostdeutschen Jugendlichen
niedriger geworden. Waffen werden seltener abgelehnt, und sie sind ja auch zugänglich.
Für diesen Krieg zu sein, heißt, auf der Seite der Macht und der Mächtigen und der
vermutlichen Sieger zu sein. Das ist die größte Verführung, die von der gegenwärtigen
Kriegspolitik ausgeht. Analysen rechtsextremer Jugendgewalt im Osten zeigen eine
Überanpassung an die bestehende Gesellschaft, die Gewinnung von (beschädigtem)
Selbstbewußtsein mittels Gewalt und mittels der Zugehörigkeit zu den Tätern. Stark sein
gegen das Schwache. Die eigene Minderwertigkeit wird zur Erstrangigkeit, die eigene
Nichtigkeit zur medialen Größe. Sich endlich mit etwas identifizieren können. Das Leben
bekommt für den Moment Ziel und Sinn, die Lebensangst wird durch sieghafte Gewalt
überwunden. Das ist die Todesspirale der Angst und der Ängste, die für unser
Jahrhundert so bestimmend erscheint. Norman Mailer schrieb in seinem großen Roman
"Die Nackten und die Toten" darüber, und Daniil Granin gab seinem jüngsten
Buch den Titel "Das Jahrhundert der Angst". Die wichtigste Funktion dieses
Krieges ist wahrscheinlich nicht die Durchsetzung politischer und ökonomischer
Interessen, nicht der Kriegsgewinn, nicht die Neuordnung Europas und der Welt nach
amerikanischem oder deutschem Bilde, sondern die Transformation von Angst in Aggression
und das Angstmachen. So funktioniert Macht.
Krieg polarisiert. Krieg kennt nur ja oder nein, ich oder du, die eine oder die andere
Seite. Gehörst du nicht zu uns, gehörst du zu den anderen. Die Polarisierung infolge des
Krieges ist von ungeheurer Gewalt. Und sie hat die Spätfolgen weit über die Kriegszeit
hinaus. Deserteure des Zweiten Weltkriegs sind bis heute diskriminiert, und Serben werden
nicht so bald ihren neuen alten Haß auf bombende Deutsche vergessen können.
Der Krieg hängt einem an.