Zeitungsausschnitte
Novemberrevolution Deutschland 1918
Interessantes, Zeitungsausschnitte, Zitate,
Wahlkampf, Kosovo, Medien, Todesstrafe, Völkerrecht,
Schabowski war der Schmetterling, zum Platz der DDR in der Geschichte, Deutsche Interessen in Serbien, Der Krieg um das Image, Für Krieg gibt es keine guten Gründe, Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Schock der Freiheit,
Novemberrevolution Deutschland 1918,
- Zukunftshoffnungen und
blutige Enttäuschung, Neues Deutschland 07./08. November 1998
- Aus dem Tagebuch eines Soldaten: Alle
waren kriegsmüde, Neues Deutschland 07./08. November 1998
- Die Deutschen und ihre
Revolutionen, Neues Deutschland 07./08. November 1998
- Die Flotte lief nicht aus, Neues Deuschland
07./08. November 1998
- Die Militärpolitik der Sozialdemokratie -
Dreifacher Schandfleck, Neues Deutschland 07./08. November 1998
- Der friedliche Umsturz von 1989 - Ein
Vergleich: Kein kommunistischer Noske, Neues Deutschland 07./08. November 1998
Neues Deutschland 07./08. November
1998
Beginn oder Ende eines Geschichtszyklus
Zukunftshoffnungen und blutige Enttäuschung
Von Wolfgang Ruge
Rote Fahnen über Kiel, Hamburg, Bremen. Generalstreik, gewaltige Demonstrationen in den Prachtstraßen Berlins. Proklamierung einer "freien", ja einer "sozialistischen" Republik, dann aber, im "zirkus Busch", Protestrufe aufgeputschter Soldaten gegen Karl Liebknecht und spät nachts ein geheimes Telefongespräch, in dem sich der neue Reichskanzler Ebert verpflichtet, den Aufruhr nach den Plänen General Groeners niederzuwerfen. Später gegen revolutionäre Matrosen in Stellung gebrachte Geschütze am Berliner Schloß, Aufrufe zum Sturz der Ebert-Regierung, die sich des lästigen Aushängeschilds der "Volksbeauftragten" entledigt hat. Meuchelmord an Karl und Rosa, Massaker der Freiwilligenverbände, die darauf eingeschworen sind, Zucht und Ordnung "wie einen Ölfleck" über das Reich auszubreiten.
Wettlauf also der sich vorantastenden Revolution und der zielstrebigen Konterrevolution. Hier eine entschlossene Minderheit, die eine radikale Wende erzwingen will, dort die Gegenrevolutionäre und eine Mehrheit der gerade noch den Schützengraben und stinkenden Waffenschmieden Entkommenen, die wieder frei atmen zu können glaubt, als ihre Forderung "Schluß mit dem Kriege! Fort mit Kaiser Wilhelm!" erfüllt wird. Auf der einen Seite selbstlose Revolutionäre, die ihr Leben für grandiose Visionen, Volksherrschaft und Sozialismus, einsetzen und nicht danach fragen, ob sich das "rechnet". Auf der anderen die die Rückkehr zum Alltag herbeisehnende und das Ungewisse fürchtende Masse, die schweigt und wegsieht, wenn die Truppen Noskes, Merkers oder Epps die Führer der Revolution ermorden.
Alle, deren Herzen damals für rote Fahnen über Deutschland schlugen, waren davon überzeugt, daß sich mit der Erhebung der Matrosen, Arbeiter und Soldaten inmitten Europas ein von der russischen Revolution eingeleiteter Revolutionszyklus fortsetzen und alsbald in eine Weltrevolution ausmünden werde. Endlich, so meinten sie, seien die Massen in einem hochentwickelten Land in Bewegung geraten, in einem jener Länder also, auf die Marx und Engels ihre Zukunftshoffnungen gesetzt hatten.
Indes - die Novemberrevolution war, wie wir heute wissen, nicht die erste, sondern
zugleich auch die letzte Revolution in einem führenden Industriestaat. Seither
haben zwar vielgestaltige Aufstände, Volkserhebungen und revolutionäre Kriege in der
Dritten Welt die kolonialen und halbkolonialen Fesseln gesprengt, doch zu Revolutionen in
den Hauptländern des Kapitals ist es nicht mehr gekommen. Und vom weltrevolutionären
Traum ist nicht einmal ein blasser Schimmer geblieben.
Abb.: Arbeiterdemonstration vor dem Berliner Abgeordnetenhaus, während der Tage der Novemberrevolution 1918 (Fotos: ND-Archiv)
Könnte es also sein, daß die russische und die deutsche Revolution 1917/18 nicht den Beginn, sondern das Ende eines Revolutionszyklus markierten - eines Zyklus, der die bürgerliche Gesellschaft hervorbrachte und dessen Spätausläufer noch einmal in den militärisch geschlagenen halbabsolutistischen Monarchien Zentral- und Osteuropas aufleuchteten?
Bei allen Verdiensten, die sich die DDR-Geschichtsschreibung um das Wachhalten der Erinnerung an die deutsche Novemberrevolution erworben hat, wurde diese Frage von ihr niemals gestellt. Ein Grund dafür ist sicher, daß die DDR-Historiker von der Existenz historischer Gesetzmäßigkeiten ausgingen und deshalb die vermeintlich in Rußland vollzogene sozialistische Umwälzung zum Bewertungsmaßstab anderer Erhebungen machten. Nach einem solchen Kriterium aber war Deutschland beim "Februar" stehengeblieben und hatte das historisch vorgegebene Ziel verfehlt. Verantwortlich dafür wurde der (an den "objektiven Bedingungen" gemessen) ungenügend entwickelte und auf den Einfluß der reformistischen Führer zurückgeführte "subjektive Faktor" gemacht.
Das braucht, auch wenn es am Verlauf der Geschichte nichts ändert, nicht falsch zu sein, erklärt aber weder, warum die proletarischen Massen in Deutschland 1918 für die reformistischen Ideen anfällig waren, und schon gar nicht, warum sich diese Ideen in den folgenden anderthalb Jahrzehnten behaupten konnten, obwohl von Inflation, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen bedrängte Republik kein besseres Leben zu schaffen vermochte und Sowjetrußland zu beweisen schien, daß die kühnsten Revolutionen unbesiegbar seien. Gewiß, ein Teil der sozialdemokratisch-reformistisch beeinflußten Arbeiter wandte sich in jenen Jahren den kommunistischen Idealen zu, doch die reformistischen Ideen waren nicht totzukriegen, obwohl sich auch viele unzufriedene Proleten von rechtsradikalen Revolutionsfeinden betören ließen.
Folglich muß die Frage erlaubt sein, ob nicht das Vertrauen in den Reformismus der sozialen, ökonomischen und kulturellen Situation entsprach, in der sich die Mehrheit des deutschen Proletariats während der Revolution und in den Jahren danach befand? Wollten die Arbeiter nicht einen unendlich blutigen - in Rußland vorexerzierten - Bürgerkrieg vermeiden, dessen Ausgang angesichts einer drohenden Intervention der Siegermächte höchst fragwürdig war? War es nicht naheliegend, daß sie sich, zunehmend bürgerlichen Denkweisen verfallend, an die Versprechungen ihrer mit den Militaristen kollaborierenden Führer hielten, die sich zumeist stark genug wähnten, ihr Programm schrittweise gegen den Widerstand ihrer unsympathischen Bundesgenossen durchsetzen zu können? Und generell: Ist es nicht symptomatisch für ein hochentwickeltes Land, daß der Großteil der Massen im Strudel der Revolution vor opfer- und risikoreichen Kämpfen zurückweicht, ja heute (und das keineswegs nur in Deutschland!) nicht einmal mehr die Möglichkeit solcher Kämpfe ins Auge faßt? Spricht das nicht dafür, daß der Revolutionszyklus in den Ländern des Kapitals 1917/18 seinen Abschluß gefunden hatte?
Mit Blick auf Rußland und Deutschland könnte darüber hinaus gefragt werden, ob die jeweiligen Revolutionen nicht die Spaltung der Arbeiterbewegung derart vertieften, daß ihre Flügel in entscheidender Stunde nicht mehr fähig waren, sich gemeinsam der Errichtung blutiger Diktaturen zu widersetzen? In Rußland wurden die nichtbolschewistischen linken Parteien als "konterrevolutionär" ausgeschaltet, in Deutschland schalteten sich Reformisten und Revolutionäre mit dem Zetern über die "moskaugesteuerten Kozis" und der Sozialfaschismusthese selbst aus. Im Ergebnis wurden 15 Jahre nach 1917/18 dort die Stalin-Diktatur und hier das Hitler-Regime errichtet. Enthielten beide Revolutionen womöglich schon den Keim ihrer Selbstzerstörung?
Der Potsdamer Historiker Prof. Wolfgang Ruge arbeitete an der Akademie der Wissenschaften der DDR über die Weimarer Republik.
Neues Deutschland 07./08. November 1998
Aus dem Tagebuch eines Soldaten:
Alle waren kriegsmüde
Max Gilbert, 1897 in Knauthain bei Leipzig geboren, von Beruf Schlosser, überraschte die Nachricht vom Kriegsende und Ausbruch der Revolution 1918 an der Westfront. Sein bislang unveröffentlichtes Tagebuch, aus dem wir mit freundlicher Genehmigung der Familie Auszüge publizieren, legt Zeugnis ab, wie die "kleinen Leute" die dramatischen Ereignisse erlebten und mitgestalteten. Gilbert wurde 1919 Mitglied der USPD, später der SPD. In der DDR wieder in seinem Beruf tätig, war er Gewerkschaftsfunktionär und Volkskorrespondent. Er starb 1974 in Leipzig.
3. Oktober: Uns weckt Trommelfeuer. Um 8 Uhr rückt die Kompanie ab. Wir bleiben hier. Bange Spannung. Es ist ein toller Lärm vorn. Hoffentlich holen sie uns nicht.
7. Oktober: Wir waren in Gent zum Entlausen.
Nützliche Sache, und wir sahen uns bei der Gelegenheit gleich die Stadt an ... Aber viel
wichtiger als die schöne Stadt Gent: Friedensangebot der neuen deutschen Regierung!
Eine neue Regierung in Deutschland: Prinz Max von Baden Reichskanzler geworden, der
Sozialdemokrat Fritz Ebert Minister. Sie richten auf der Grundlage von Wilsons 14 Punkten
ein Friedensangebot an alle Welt. Morgenrot! Endlich ein Ziel in Sicht: Friede, Heimat!
12. Oktober: Ersatz war aus der Heimat eingetroffen. Und wir mußten mit zur Kompanie. Das zerhieb unsere Illusionen ... Aber wir "Alten" hatten eine stille, aber zähe Parole: Möglichst langsam an die Front, sehr schnell wieder zurück!
16. Oktober: Gerüchte schwirren, niemand weiß woher. Der Kaiser abgedankt. Prinz Max zurückgetreten. Scheidemann Reichskanzler? Liebknecht Minister?
22. Oktober: Morgens 5 Uhr Abmarsch an die
Front. Mit Musik, damit wir Lust kriegen sollen. Mit Gewalt geht nichts mehr. Das haben
sie gemerkt. Aber wir auch. Alle waren
kriegsmüde, wollten ein Ende, gleich wie. Alle. Mit Ausnahme des Spießes. Der hielt zur
Erheiterung der Kompanie noch eine feurige Rede zur Zeichnung von Kriegsanleihen. Das
Schaf.
Aus dem Militärpaß von Gilbert (Abb.: privat)
31. Oktober: Ich erwache, weil die Erde zittert. Dumpfer Donner! Raus! ... Großangriff. Trommelfeuer bösester Art ... Da vorn ist die Hölle, die alte Hölle, durch die wir schon zwei Jahre rasen, die uns festhält, wie ein unheimlicher Polyp ... Um neun Uhr ist es soweit. Abmarsch. Fort in den Tod.
4. November: Es ist nicht viel los. Aber die große Unruhe in Deutschland hat auch die Front gepackt. Es gibt Unterricht über Politik. Der natürlich den Zweck hatte, die aufgeregten Gemüter zu beruhigen. Der Leutnant leitete den Unterricht. Er pries die Vorzüge einer demokratischen Monarchie, wie sie jetzt bestünde, gegenüber der Ungewiß einer Republik.
7. November: Früh gibt der Leutnant bekannt, daß eine deutsche Kommission nach dem Westen gereist sei, um die Waffenstillstandsverhandlungen zu beginnen. Endlich Aussicht auf ein Ende dieses Wahnsinns. Waffenstillstand! Wenn es doch schon soweit wäre. Warum bloß unsere Artillerie noch schießt? Ist doch Quatsch. Lauft hin und sagt, sie sollen aufhören!
Das Beispiel Rußland
9. November: Totenstille. Lachende Herbstsonne, lauer freundlicher Himmel. Zarter Dunst in der Ferne der flämischen Landschaft. Wie im Frieden! Wenn er doch schon da wäre. Noch zwei Tage, am 11. November soll Waffenstillstand sein.
11. November: Bis gegen Mittag schlafen wir. Leutnant Möbius kommt herein: "Ab 11 Uhr Waffenstillstand!" Alle denken und sprechen durcheinander: Menschenskinder, nun geht es in die Heimat.
13. November: Wir wählen einen Soldatenrat von drei Mann. Aus meiner Gewehrbedienung ist Paul Weißig dabei. Die Offiziere nennen das Vertrauensleute, für uns sind es aber Soldatenräte nach dem Beispiel der Revolution in Rußland.
23. November: Heute ist Ruhetag. Wir entgurten unsere Munition und versenken sie in der Maas.
26. November: Um 9 Uhr beginnt der Marsch in
die Heimat ... Nach Überwindung eines steilen Berges kommen uns im Tale die Lichter der
Stadt Aachen zu Gesicht. Nach 24 Uhr ziehen wir ein.
Die Stadt ist geflaggt. Blumenpforten schmücken die Straßen. "Willkommen unsere
tapferen Krieger!" ist überall zu lesen. Mit kräftigem Gesang ging es durch die
Stadt. Die Freude, in der Heimat zu sein, ließ alle Anstrengungen vergessen. Eine Schule
ist unser Quartier. Wir gehen gleich noch ein Glas deutsches Bier trinken. Dabei finde ich
in der ersten deutschen Zeitung die Nachrichten von der schlechten auswärtigen und
inneren Lage Deutschlands. Langsam, unter großen Schwierigkeiten, vollzieht sich die
Entwicklung zum sozialistischen Staat. Möge er uns eine glückliche Zukunft bringen.
12. Dezember: Löhnung. Bei der gestrigen Wahl
zum Soldatenrat bin ich mit mehr als 60 Stimmen gewählt worden. Ich trete voraussichtlich
erst in Dresden in Kraft.
Nach 52 Tagen kann ich das erste Mal wieder die Wäsche wechseln.
18. Dezember: Ganz Dresden ist auf den Beinen.
Die 23. Division zieht ein. Die Schulkinder
haben frei und machen Stimmung. Sie brüllten wie bezahlt. Ich verstand immer:
"Hungaa! Hungaa!". Sie werden aber sicher "Hurra" gerufen haben. In
der Prager Straße wurden wir mit Äpfeln, Zigarren und Zigaretten bombardiert.
Mancher alte Kampfgenosse wurde getroffen. Auf der Friedrich-August-Brücke treffe ich
meine Mutter, begleitet von der Tante. Das war mir das Schönste vom ganzen Umzug.
Berlin, Brandenburger Tor 1918
19. Dezember: Ich beginne meine Tätigkeit als Soldatenrat. Ich wohne einer Sitzung der Feldsoldatenräte im Volkshaus bei. Der große Saal war dicht gefüllt ... Der Redner vorn am Pult schilderte die Ereignisse der letzten Tage. In Berlin hatte ein Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte stattgefunden. Liebknecht und Rosa Luxemburg waren nicht eingeladen worden. Die Mehrheit des Kongresses hatte beschlossen, am 19. November 1919 Wahlen durchzuführen. Sollte so die Revolution abgewürgt werden? In Berlin war es schon am 6. Dezember zu Schießereien zwischen roten Matrosen und irgendwelchen reaktionären Haufen gekommen. Der Kamerad kam zum Ende seiner Rede: "Deswegen sind wir heute hier zusammengekommen, ihr müßt euch aussprechen! Unsere Gegner, die Kapitalisten und Militaristen, sind zwar in das Mauseloch gekrochen. Aber sie sind noch da. Sie wühlen im Geheimen, und wenn wir nicht aufpassen, dann sind sie wieder obenauf. Das wollt ihr nicht, und wir nicht. Wir wollen gemeinsam ein friedliches, demokratisches Deutschland, in dem der Arbeiter eine bessere Zukunft findet als bisher." Es sprachen dann eine ganze Reihe Kameraden, und es gab viele Meinungen.
Jetzt bin ich Mensch!
Januar 1919: Das markanteste Ereignis des
Januar auf öffentlichem Gebiet sind zweifellos die Wahlen zur Nationalversammlung am 19.
Januar gewesen. Ihre Vorbereitung hat Riesenarbeit gekostet. Bei uns folgte eine
Besprechung der anderen. Gigantische Flugblattschlachten und gewaltige Plakatklebereien
fanden auf den Straßen und Plätzen statt. Das Wahlalter war auf 20 Jahre herabgesetzt
worden, und die Frauen durften mitwählen. Zum ersten Male durften in Deutschland auch die
Soldaten wählen. Für mich und den Soldatenrat der MG-Kompanie war klar: USPD wird
gewählt, alles andere ist abzulehnen. So klar war das nicht in allen Kompanien. Es gab
dort viele SPD-Anhänger. Auch die Demokraten kamen zu Wort. Die Kommunisten waren nicht
wählbar, denn sie stellten keinen Kandidaten auf.
Die Erbitterung des Wahlkampfes steigerte sich, als am 16. Januar bekannt wurde, daß am
Vortage Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verschleppt und ermordet worden waren.
Empörung überall, es kam sogar zu Demonstrationen. Aber dabei blieb es auch, kein
Generalstreik folgte.
Trotz unserer Anstrengungen erhielten
die Sozialdemokraten und die Unabhängigen Sozialdemokraten zusammen nur 185 Mandate,
während die bürgerlichen Parteien 236 Vertreter in die Nationalversammlung schickten.
Wie soll nun sozialisiert werden, wenn man kein Mehrheit hat?
Erschießung eines Spartakisten
Februar: Die wichtigsten öffentlichen
Ereignisse sind wohl die Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar und die Bildung der
Regierung. Ebert ist Präsident der deutschen Republik, Scheidemann Ministerpräsident.
Rechtes Vertrauen habe ich nicht zu diesen Leuten, dazu schreckt mich ihre falsche
Kriegspolitik viel zu sehr ab.
Innerhalb des Reiches gärt es weiter. Der Noske herrscht mit robuster Gewalt. In Bremen
rückte er mit Kanonen, Maschinengewehren und Handgranaten ein. Im Ruhrgebiet ebenso.
In Mitteldeutschland ist erst dieser Tage der Generalstreik erklärt worden. Der Streik
findet in den unzufriedenen, hungernden Massen gute Unterstützung. Hoffentlich erreicht
er, daß alle wirklich sozialistische Ziele und Aufgaben, die wir von der Revolution
erwarteten, nun endlich bald in Erfüllung gehen.
Ein grausamer Vorfall. Am 21. Februar wurde in München der sozialistische Führer Kurt
Eisner auf offener Straße ermordet. Ein Stunde später große Schießerei im Landtag.
Bayern ist Räterepublik. Es kocht und gärt überall.
Am 2. Februar fahren wir, einer Einladung unseres Kameraden Willy Einhorn folgend, nach
Deuben. Von dort wandern wir zu Fuß durch Hainsberg zum Gasthof Coßmannsdorf. Mir
gefällt der Saal: schön glatt; die Musik schneidig, allen Anforderungen genügend. Dazu
wunderbare Lichteffekte: rot, grün, blau, je nach dem Walzer, der gespielt wird. Die
Hauptsache, ich fand eine wunderbare Tänzerin, mit der ich fast alle Touren tanzte. Diese
Grazie in der Haltung und diese leichte Art zu tanzen, diese schlanke Figur, diese
leichte, fließende Unterhaltungsgabe nehmen mich sofort für sie ein. Die beste Tänzerin
unstreitig, die ich bisher kennenlernte. Und der schönste Abend, den ich bisher erlebte.
März: Das Tanzfieber hält an. Neunmal war
ich tanzen, 454 Touren, 50 pro Abend.
In Leipzig herrschte bis vor wenigen Tagen ein gut organisierter Generalstreik. Die Herren
Kapitalisten werden wohl gestaunt haben, welche Macht das Proletariat entwickeln kann.
Hier in Dresden wurde am 3. ersucht, einen Generalstreik zu bewerkstelligen. Es gelang
aber nicht.
Am 31. ist der Tag der großen Trennung. Meine Militärzeit ist um. Drei Jahre war ich
dabei, zwei davon im Felde. Jetzt bin ich wieder frei, freier Staatsbürger und Mensch.
Jetzt bin ich Mensch, jetzt darf ich´s sein!
Neues Deutschland 07./08. November 1998
Ein Sonderweg - zur Nachahmung empfohlen
Die Deutschen und ihre Revolutionen
Von Georg Fülberth
Die erste Revolution in Deutschland hat bekanntlich 1525
stattgefunden: der Bauernaufstand. Von Friedrich Engels haben wir das gelernt. Das Ende
war fürchterlich: Gefangenen Bauern wurden die Augen ausgestochen, sie wurden gerädert,
gevierteilt und gehängt.
Die deutsche Bourgeoisie hat ihre Schlüsse gezogen: Revolutionen lohnen nur, wenn sie im
Einvernehmen mit der Obrigkeit durchgeführt werden. Daran hat sie sich fortan gehalten.
Abweichungen ließen sich als Fernwirkungen ausländischer Revolutionen darstellen. Auch
die Französische Revolution 1789 ff. verfing nur bei wenigen Deutschen Jakobinern.
Um so kräftiger war die Gegenbewegung: die Massenerhebung 1813, als das Volk aufstand, um
nicht nur eine ausländische Besatzungsmacht zu vertreiben, sondern auch die Folgen von
Aufklärung, welche diese mitgebracht hatte. Diese deutsche levée en masse erfolgte, wie
es sich gehört, im Bund mit den Fürsten. Sie befand sich - Peter Hacks hat es gezeigt -
sogar rechts von diesen.
1830/31 allerdings ließ sich eine Antwort auf welsche Anstiftung vernehmen: Nach
den Revolutionen in Frankreich und Belgien wurden einigen deutschen Herrschern die Fenster
eingeworfen, ihnen wurden Katzenmusiken dargebracht und Verfassungsforderungen
präsentiert. Der Kurfürst von Hessen-Kassel mußte sogar bis nach Hanau flüchten. Ihm
hat man wohl vor allem seine Mätresse verübelt.
Die deutsche Revolution von 1848 stellte eine Mischform dar. Zunächst reagierte sie auf
einen französischen Vorgang, war also insofern angestiftet. In der Folgezeit wurde sie
aber ins Deutsche abgebogen: die Parlamente in Berlin und Frankfurt bemühten sich
angelegentlich um das Einvernehmen mit den Fürsten. Keineswegs sollten die Verfassungen
auf der Volkssouveränität beruhen, sondern auf Vereinbarung mit den bisherigen und
weiterbestehenden Gewalten. Zum Schluß bot man dem preußischen König Wilhelm IV. die
Kaiserkrone an. Darüber lachte dieser sich fast tot, woran sich zeigt, daß er nicht so
verrückt war, wie man ihm oft nachsagt.
Eine komplett deutsche und überdies ziemlich gründliche Revolution vollbrachte dagegen
1866 Bismarck: Er setzte nach dem Krieg gegen Österreich kurzerhand in Norddeutschland
mehrere gekrönte Häupter ab. Das hätte 1848 niemand gewagt.. Deshalb wird Bismarck in
einer ihm ergebenen Geschichtsschreibung auch heute noch als "Der weiße
Revolutionär" tituliert.
Das "Augusterlebnis" von 1914 wurde von vielen Zeitgenossen als durchaus
revolutionär empfunden. Von hier führt eine Linie bis zum 30. Januar 1933: die
Machtübertragung an Hitler galt seinen intellektuellen Stiefelleckern als Schluß- und
Höhepunkt einer "nationalsozialistischen Revolution".
Dazwischen liegt allerdings ein etwas sperriges Ereignis: die Umwälzung von 1918. Sie
fällt aber nicht völlig aus der hier gezogenen Linie heraus. Zweifellos lag ideologische
Fern-Ansteckung vor: Petrograd 1917. Aber diese hätte wohl nicht weiter gereicht als die
Emeuten von 1830/31, wenn Wilhelm und die Fürsten nicht zugleich den Krieg verloren und
die Hoffnungen von 1914 enttäuscht hätten. Das wirkte zunächst neutralisierend auf die
Rechte. Sie wurde von Ebert, Noske und Scheidemann gerettet, welche den inzwischen schon
so charakteristischen deutschen Revolutionsverlauf durchsetzten: die Vereinbarung, in
diesem Fall mit der Obersten Heeresleitung. Damit wurde jenes gesellschaftliche,
politische und ökonomische Potential gerettet, das den Weg, der 1914 begonnen hatte, 1933
und 1939 fortsetzen konnte.
Das Einvernehmen war so weitgehend, daß nicht einmal die Fürsten fortgejagt wurde: sie
dankten von selbst ab. Eine Ausnahme war der Großherzog von Hessen-Darmstadt. Er sah gar
nicht ein, daß er zurücktreten sollte, wo er doch schon vor 1914 von Wilhelm dem Zweiten
als der "Rote Großherzog" beschimpft worden war, weil er bei der Eröffnung des
Landtages den Sozialdemokraten die Hand gegeben hatte. Schweren Herzens mußten sie ihn
absetzen, denn - so schade das auch war - die Republik war auf die Tagesordnung gesetzt.
Aufruf der Spartakusgruppe vom 10. November 1918 | Extraausgabe des "Vorwärts" vom 10. November 1918 |
Der plötzliche Verlust des Kaisers war insofern bedenklich, als kein Staatsoberhaupt
mehr da war, mit dem man sich hätte vereinbaren können. Das Hohnwort "Wilhelm der
Türmer", das man ihm nachrief, drückt doch etwas von dieser Verlegenheit aus. Dem
Geflohenen konnte der Vorwurf gemacht werden, durch seine Abwesenheit jene
Mißverständnisse begünstigt zu haben, deren Korrektur an Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht so blutig exekutiert werden mußte. Wäre er geblieben und hätte sich still
verhalten, hätte zumindest für die Bürgersleute, die jetzt ein paar Monate
stillhielten, jenes Machtvakuum gefehlt, in dem sie zähneknirschend eine Art
Legitimierung der Arbeiter- und Soldatenräte sahen.
Daß Ebert ganz schnell sich vom Prinzen Max von Baden das Kanzleramt übergeben ließ und
dabei seinem Haß auf die Revolution kräftigen Ausdruck gab, sollte diese gefährliche
Lücke schließen, aber das ging noch nicht schnell genug. Er hatte Grund genug, Wilhelm
dem Zweiten wegen seines Abgangs gram zu sein. Und aus demselben Grund bekam er einen
Wutanfall, als Scheidemann die Republik ausrief. Der hätte warten sollen, bis die
Vereinbarung, der höchste Akt einer deutschen Revolution gefunden war.
Die Verlegenheit über den verlorenen Kaiser läßt sich noch in der Weimarer
Reichsverfassung nachlesen: Man ersetzte ihn durch ein quasi-monarchisches Organ: den
Präsidenten. damit wurde eine Tradition gestiftet, welche ab 1949 in Deutschland
fortgesetzt worden ist. Allerdings sind die Ersatzkaiser jetzt nicht mehr die
Staatsoberhäupter, sondern das Bundesverfassungsgericht und die Bundesbank. Nach wie vor
fühlt man sich ein bißchen unwohl mit der Volkssouveränität. Auch die Verehrung, mit
der selbst die dümmsten Reden der bisherigen Bundespräsidenten geschlürft wurden (eine
Ausnahme Lübke), ist Ausdruck eines Phantom-Schmerzes.
Die Umwälzungen, welche ab 1945 östlich der Elbe stattfanden, waren recht radikal und
langwierig, aber undeutsch, da von einer fremden Macht begünstigt. Soweit sie von
einheimischen nichtkommunistischen Kräften mitgetragen wurden, konnten diese insofern ein
gutes Gewissen haben, als Übereinstimmung mit einer - wenngleich nicht sehr geliebten -
Obrigkeit vorausgesetzt werden konnte.
Die Aufläufe von 1989 trugen wieder alle Merkmale einer unverkennbar deutschen
Revolution. Sie revidierten das Diktat der Jahre nach 1945, beseitigten also - wie bereits
1813 - eine Fremdherrschaft. Trotz Gorbatschow kann von Fernsteuerung keine Rede sein.
dagegen bestand von vornherein Übereinstimmung mit der Obrigkeit, wenngleich nicht in
Berlin, so doch in Bonn.
Aus diesem Überblick über 473 Jahre Revolutionsgeschichte können zwei, einander
allerdings ausschließende Folgerungen gezogen werden.
Entweder: Die Deutschen haben niemals zur Revolution getaugt und sollten von solchen
Unternehmungen lieber die Finger lassen. Oder: Ganz im Gegenteil. Sie haben einen
Sonderweg beschritten und auf diesem einen eigenen, eben deutschen Umwälzungstyp
entwickelt, der anderen Völkern (insbesondere nach deren Flops 1789 und 1917) zur
Nachahmung empfohlen werden könne. Die Übernahme einer quasi-monarchistischen Instanz,
nämlich einer nicht politisch kontrollierten, unabhängigen Zentralbank nach dem Vorbild
der Bundesbank, durch einige Nachbarn läßt in diesem Sinne hoffen.
Prof. Georg Fülberth lehrt an der Universität Marburg
Neues Deutschland 07./08. November 1998
Matrosenaufstände von Kiel bis Rostock
Die Flotte lief nicht aus
Von Horst Diere
Die Weimarer Republik trieb bereits ihrem Untergang entgegen, als im Spätsommer 1930 zwei Berliner Theaterinszenierungen an die Ereignisse erinnerten, aus denen die erste deutsche Republik hervorgegangen war: Am Lessing-Theater erlebte die Bühnenfassung von Theodor Plievers Roman "Des Kaisers Kuli" ihre Uraufführung, während das Theater am Schiffbauerdamm Ernst Tollers "Feuer aus den Kesseln" auf die Bühne brachte. Beide Stücke, in deren Mittelpunkt die Matrosenerhebung in der deutschen Hochseeflotte August 1917 steht, schließen damit, daß Ende Oktober 1918 revolutionäre Matrosen, den Kampf von Köbis und Reichpietsch fortsetzend, das Auslaufen der Flotte zum "Endkampf" gegen England verhinderten. Das Deutsche Reich Wilhelm II. war im Herbst 1918 militärisch, wirtschaftlich und politisch am Ende. Die Oberste Heeresleitung mußte eingestehen, daß der um die Weltherrschaft geführte Krieg verloren war. In den Massen gärte es. Die Revolution stand vor der Tür. In dieser Situation faßte die deutsche Seekriegsleitung unter Admiral Scheer den ungeheuerlichen Plan, die Hochseeflotte in eine letzte Schlacht mit der überlegenen britischen Flotte bis zum Untergang mit wehender Flagge zu führen. Den Schiffen wurde befohlen, sich am 29. Oktober auf Schilligreede vor Wilhelmshaven bereitzustellen. Viele Matrosen und Heizer verfügten über politische Erfahrungen aus der Arbeiterbewegung, gehörten den Gewerkschaften, der SPD oder der USPD, einige der Spartakusgruppe an. Das sichere Ende des Krieges vor Augen, wuchs ihre Entschlossenheit, sich gegen dieses militärisch sinnlose Unternehmen zur Wehr setzen. Noch in Wilhelmshaven begann auf den Schiffen der Widerstand gegen das Auslaufen. Er erreichte seinen Höhepunkt auf Schilligreede am 30. Oktober, als die Flottenführung versuchte, das Auslaufen der Schiffe zu einer großen Flottenoperation doch noch zu erzwingen.. Auf vielen Großkampfschiffen rissen die Heizer die Feuer unter den Kesseln heraus und verweigerten die Matrosen das Ankerlichten. Die Besatzungen der Linienschiffe "Thüringen" und "Helgoland" hißten als erste rote Flaggen.
Zum letzten mal gelang es der Flottenleitung, der Erhebung vorübergehend Herr zu werden. 1000 Matrosen und Heizer wurden verhaftet. Der Flottenvorstoß konnte jedoch nicht mehr stattfinden.
Admiral Scheer befahl, die Geschwader einzeln in die Häfen zurückzuführen. Das II. Geschwader, das kampfstärkste der deutschen Flotte, nahm durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal Kurs auf Kiel, den Hauptstützpunkt der Kaiserlichen Marine. Unter den 5000 Matrosen und Heizern dieser Schiffe war die Empörung groß, denn auf der Fahrt durch den Kanal wurden erneut Matrosen verhaftet. Das setzte sich nach dem Festmachen der Linienschiffe in Kiel fort. In den frühen Abendstunden des 3. November kam es auf dem Kieler Exerzierplatz zu einer Protestkundgebung von fast 6000 Matrosen, Heizern, Soldaten und Arbeitern. Freilassung der arretierten Matrosen, Beendigung des Krieges und Frieden waren die Hauptforderungen. Ein Demonstrationszug formierte sich und zog in Richtung Marinearrestanstalt. Eine vorwiegend aus Seekadetten, Deckoffizieren und unerfahrenen Rekruten bestehende Patrouille eröffnete das Feuer auf die Demonstranten. Acht Tote und 29 Schwerverletzte waren die blutige Bilanz.
Im Verlauf des 4. November bewaffneten sich Matrosen, wählten Soldatenräte, überwältigten die Offiziere und hißten die rote Fahne. Landtruppen und Werftarbeiter schlossen sich dem Aufstand an. Nach Kieler Beispiel erhoben sich Matrosen, Soldaten und Arbeiter in Cuxhaven, Hamburg, Wilhelmshaven und Bremen, in Wismar, Rostock und Stralsund. Die Novemberrevolution begann ...
Der Militärhistoriker Prof. Horst Diere lebt und arbeitet in Halle.
Neues Deutschland 07./08. November 1998
Angst vor der Herrschaft der Massen - Die Militärpolitik der Sozialdemokratie
Dreifacher Schandfleck
Von Klaus Gietinger
Die führenden Männer in der SPD hatten um die
Jahrhundertwende ein großes Problem. Sie wollten nicht mehr das sein, als was sie
Bismarck bezeichnet hatte: "Vaterlandslose Gesellen". Vergessen war die Marxsche
Losung, daß die Proletarier kein Vaterland hätten. Man wollte doch eins, und zwar das
Wilhelminische, mit allen Konsequenzen.
Die "Nationalen Interessen Deutschlands" waren für die vormals
internationalistische SPD plötzlich eins mit den Interessen der Arbeiterklasse. Kein
Wunder, daß man sich bald (und wegweisend für die gar nicht so begeisterten
Proletariermassen) zu Krieg und Kriegskrediten bekannte. Der August 1914 ist der erste
große Schandfleck der SPD.
Weitere Milliarden-Bewilligungen folgten, bis zum Juni 1918. Und wer nicht wollte, im
Reichstag, wie der Sozialdemokrat Hugo Haase, der wurde von den eigenen Genossen als
"Frecher Halunke" (Ebert), als "Drecksseele" (Scheidemann), als
"Judenjunge" (Bauer) oder als Teil einer "Judenbande" (Legien)
beschimpft und dann aus der Partei geworfen.
Logische Folge, daß die soziale Revolution, auf der man in der SPD wie auf eine
Naturereignis jahrzehntelang gewartet hatte, nun plötzlich gehaßt wurde "wie die
Sünde" (Ebert). Wer den Krieg unterstützt, muß sich vor der Revolution fürchten.
Groß die Panik, als sie dann doch da war. Die Matrosen und die Arbeiter hatten ihre
"Kaisersozialisten" erst gar nicht gefragt. Um "Schlimmeres" zu
verhüten, mußten Ebert und seine Leute sich also an die Spitze wählen lassen. Denn noch
vertrauten die (überwiegend SPD-geprägten) Massen ihnen. Während man den Arbeitern mit
Parolen wie "Sozialismus" und "Volkswehr" Sand in die Augen streute,
verbündete man sich stantepede am Abend der Revolution (9. November 1918) mit ihren
Gegner, den Kriegstreibern von der OHL. Dies ist der zweite Schandfleck.
Gemeinsames Ziel war, wie Groener, der Chef der OHL, später gestand "die Bekämpfung
des Bolschewismus". Bolschewismus war das Zauberwort, das Großkapital, Bourgeoisie,
Kleinbürger und führende Sozialdemokraten gleichermaßen erzittern ließ. Dabei
fürchteten sie sich weniger vor dem roten Terror der Bolschewiki. Denn der Krieg, Leichen
und (wie sich zeigen sollte) auch Terror schreckte sie nicht. Nein, man fürchtete sich
vor der totalen Umwälzung, der wirklichen Herrschaft der Massen in Wirtschaft und
Gesellschaft. Das konnte nur "Chaos" bedeuten, wo doch der Krieg so schön
ordentlich geführt worden war. Also bekämpfte man die eigenen Arbeitermassen, die
Arbeiter- und Soldatenräte und somit jegliche Form von Demokratie außerhalb der
"Heerstraße" des Parlaments. National und Versammeln im Reichstag. Das war
Demokratie, alles andere war Bolschewismus.
Liest man die Erinnerungen von Scheidemann, Keil, Braun und Severing, den führenden
rechten Sozialdemokraten, dann fällt auf, daß der Weltkrieg mit den Millionen
Toten und Verhungerten, an dem sie mitschuldig geworden waren, für sie kein großes
Problem darstellte, das Problem waren die angeblich "verwilderten"
Arbeitermassen des November 1918. Also jene, die sie eigentlich vertreten sollten.
Kriegsschuldverdrängung und Bolschewismuspsychose vereinigten sich in diesen
SPD-Männern, machte sie offen für die alten Militaristen, die selbst wiederum die
"Sozis" brauchten, um als Machtapparat zu überleben, sich zu regenerieren und
dann zurückschlagen zu können.
Schon bei der Matrosenrevolte in Kiel fuhr die Führungsclique der SPD ihre Doppel-Taktik.
Der Mann fürs Grobe, Gustav Noske (SPD), ein Kriegshetzer, Rassist und Kolonialist erster
Güte, wurde in die Küstenstadt entsandt, um einerseits an der Spitze der Bewegung als
Abwiegler zu wirken und andererseits durch Aufstellung von Offiziersbrigaden schon das
Mittel zum Kampf gegen den demokratischen Sozialismus in der Hand zu haben. Kiel war kein
Einzelfall. Wie Groener 1925 unter Eid aussagte, war die Idee der Aufstellung von
gegenrevolutionären Freikorps schon im November 1918 mit Ebert abgesprochen und
"unter der Decke" weiterentwickelt worden. Dies beweist, daß die Behauptung,
jene Truppen seien erst als Folge der radikalen Politik von "Links" entstanden,
schlicht und einfach eine Zwecklüge ist. Die alten Mächte im Verein mit dem
SPD-Terminator Noske hatten es von Anfang an auf ein Blutbad angelegt. Nicht, weil es die
radikalen Volksmassen gab, kam es zum Bürgerkrieg, sondern weil die SPD (und in Teilen
auch die USPD) anstatt den preußischen Militarismus ein für allemal zu zerschlagen - was
ohne Blutvergießen möglich gewesen wäre, denn im November 1918 hatte die OHL keine
Machtmittel-, es vorzog, die alten Mächte neu zu formieren.
Sämtliche Möglichkeiten, eine demokratische Armee zu schaffen, wurden dabei ausgelassen:
Die meist SPD-geführten Arbeiter- und Soldatenräte angelogen, hingehalten und
schließlich zerschlagen. Gesetze zur Aufstellung einer Volkswehr nicht umgesetzt. Mit den
Stimmen der SPD-Basis gefaßte Beschlüsse des Reichsrätekongresses im Verein mit der OHL
einfach ausgehebelt. Demokratische Militäreinheiten wie die Volksmarinedivision
verleumdet, denunziert, schließlich um ihre Löhnung geprellt und mit kaiserlichen
Truppen angegriffen.
Ja, selbst Putsche gegen die eigene Regierung erhielten die Unterstützung der
Führungsetage der SPD, so der Putsch vom 6. Dezember 1918 durch Wels und Fischer, so der
Putsch der OHL beim Truppeneinmarsch am 10. Dezember durch den "Reichskanzler"
Ebert persönlich. Daß sie mißlangen lag am Unwillen der Kriegsheimkehrer, hier
mitzumachen.
Ohne Freikorps, also hochbezahlte Söldnertruppen aus haßerfüllten Offizieren,
Studenten, Klein- und Großbürgern, war da eben nichts zu machen. Doch wer hatte das
Sagen in diesen Freikorps? Es waren keine Desperados und auch keine Soldateska, die hier
wirkten, sondern (z.T. sehr junge) kaiserliche Offiziere, die die Niederlage des
Kaiserreiches, den Untergang der durchgeknallten Großmacht und damit ihren eigenen
"seelischen" Schiffbruch nicht verkrafteten. Der autoritäre preußische
Charakter war plötzlich gestrandet, an Land gespült worden von der Revolution, wie die
Kronen der Fürstenhäuser.
Für diese Schmach sollten die "Roten" bezahlen, man wollte sie mit aller Macht
bekämpfen. Dies war die Geburtsstunde der Nazis, Hess, Himmler, Jodl, Höss, Reinhard,
Canaris, Pabst, sie alle wurden Mitglieder der Freikorps und diese die Vorhut ihrer
Partei.
Sie alle wollten nur eins: erst Rache üben an den Revolutionären, und dann mit der SPD
selbst kurzen Prozeß machen. Die rechten "Sozis" erwiesen sich hierbei als
nützliche Idioten und Noske, "der Baum unter den sozialdemokratischen Pflanzen"
(Hitler), als "Bär mit einem Nasenring" (Graf Kessler). Kein Mittel war der
SPD-Regierung zu schade.
Gustav Noske in München; die Bluttat ist verrichtet (Fotos: ND-Archiv)
Politische Morde an Revolutionären blieben ungestraft oder wurden gar gebilligt (wie
der an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht). Die Täter nicht selten befördert, wie
Tamschick (der Mörder von Jogiches und anderen). Revolutionäre Städte oder Länder wie
Bremen und Bayern trotz Kapitulation bzw. Verhandlungsbereitschaft gnadenlos
"geschliffen". Terroristische Befehle, die selbst das Kaiserreich nicht gekannt
hatte und die einer Lizenz zum Morden gleichkamen, ausgegeben. Schließlich das ganze Land
mit Flammenwerfern und Panzern befriedet. Der Boden für die künftige
Schreckensherrschaft war bereitet. Dies ist der dritte Schandfleck.
Bis heute und nach der Wende um so mehr drückt sich die selbstgerechte SPD davor, die
Konsequenzen dieser von ihr Anfang des Jahrhunderts angerichteten Verwüstungen zu sehen,
gar von der Politik ihrer Großväter Abstand zu nehmen.
Klaus Gietinger, Soziologe, Drehbuchautor und Regisseur, lebt in Frankfurt (Main). 1995 erschien von ihm im Verlag 1900 "Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa L."
Neues Deutschland 07./08. November 1998
Der friedliche Umsturz von 1989 - Ein Vergleich
Kein kommunistischer Noske
Von Martin Koch
Über den November 1918 schrieb Sebastian Haffner:
"Widerstand, Gewalt und Blutvergießen gab es wenig. Das charakteristische Gefühl in
diesen Revolutionstagen war Verblüffung: Verblüffung der Autoritäten über ihre
plötzliche ungeahnte Machtlosigkeit. Verblüffung der Revolutionäre über ihre
plötzliche ungeahnte Macht."
Diese Zeilen lesen sich wie ein Lagebeschreibung der DDR im Herbst ´89. Auch da gab es
Verblüffung allerorten. Niemand hatte damit gerechnet, daß der vermeintlich stabile
Sozialismus innerhalb weniger Wochen in seinen Grundfesten wanken könnte. Mehr noch waren
die Menschen diesseits und jenseits der Mauer überrascht von der Tatenlosigkeit der
SED-Führung, die der Bürgerbewegung nach einer kurzen Phase unkontrollierter
"Zuführungen" kampflos die Straße überließ. Denn im Gegensatz zu den
Arbeitern und Soldaten, die 1918 den Sturz des Kaisertuns anstrebten, waren die 89er
Revolutionäre unbewaffnet.
Zur dramatischen Zuspitzung der Lage kam es, als Politbüro-Mitglied Günter Schabowski
durch seinen voreiligen Presseauftritt am 9. November ´89 die Mauer öffnete. Jetzt half
der SED-Führung kein Taktieren mehr. Es ging um den Erhalt ihrer politischen Macht.
Erneut drängen sich historische Parallelen auf: Am 9. November 1918 zwang die
fälschliche Nachricht von der Abdankung des Kaisers die Gegenrevolution zum Handeln. Um
das alte System zu retten, wurde der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert zum Kanzler ernannt,
der am Tag darauf ein Bündnis mit General Groener schloß. Die Organisation der Freikorps
übernahm Gustav Noske mit den berüchtigten Worten: "Meinetwegen, einer muß der
Bluthund werden."
Im Herbst ´89 war die militärische Lage eine völlig andere. Zwar hatten die in der DDR
stationierten 365000 Sowjetsoldaten, anders als am 17. Juni 1953, die Order, sich nicht in
die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen. Andererseits verfügte die NVA über
172000 Soldaten und Offiziere, die in ihrer Mehrheit keineswegs demoralisiert waren. Hinzu
kamen die zuverlässigen Einheiten von Volkspolizei und Staatssicherheit, etwa 100000
Mann.
Auch die historischen Erfahrungen waren für die Bürgerbewegung wenig ermutigend:
Mehrfach hatte die SED bewiesen, daß sie jeden Versuch einer Veränderung der Zustände
notfalls auch mit Gewalt unterbinden würde. Und im Gegensatz zu anderen politischen
Umstürzen dieses Jahrhunderts gab es diesmal keine militärischen Einheiten, die sich
demonstrativ auf die Seite der Revolutionäre geschlagen hatten. Um so mehr ist der Mut
der frühen Demonstranten zu respektieren, die sich unbewaffnet einer militärisch und
sicherheitspolitisch ungebrochenen Macht entgegen stellten. Niemand wußte, wie die
angeschlagene SED-Führung reagieren würde.
"Die Revolution von 1918 war gutmütig gewesen", resümierte Haffner, "die
Gegenrevolution war grausam."
In der DDR lautete die bange Frage im November ´89: Würde Krenz, wenn es um Sein oder
Nichtsein ging, sich wie ein "kommunistischer Noske" gebärden und die
Volksbewegung militärisch attackieren? Die chinesische Führung hatte den Erfolg einer
solchen Lösung demonstriert.
Auch die SED-Spitze machte zunächst militärische Planspiele und ordnete für einige
Einheiten "erhöhte Gefechtsbereitschaft" an. So etwas hatte es letztmalig beim
Einmarsch der Sowjets in Prag gegeben. In der Nacht vom 10. zum 11. November liefen im
Umland von Berlin die Vorbereitungen für die Stunde X. Erst am nächsten Mittag wurde die
"erhöhte Gefechtsbereitschaft" aufgehoben. Das Politbüro hatte die Chinesische
Lösung verworfen.
Die Revolution ging friedlich zu Ende, weil die "Gegenrevolution" ausblieb. Man
mag heute darüber spekulieren, warum die SED-Führung den Weg des Gewaltverzichts ging.
War es die gefühlte Machtlosigkeit? Oder die Verweigerung sowjetischer Unterstützung?
Was letztlich zählt ist das Resultat. Und das läßt sich schwer leugnen: Dieselben
Politiker, die in der DDR jede Opposition unterdrückten, verhielten sich in der Stunde
ihres Scheitern bemerkenswert menschlich. Ein später Triumph der humanistischen Tradition
des Marxismus? Keine bürgerliche Gegenrevolution hat je Ähnliches vermocht. Auch das
sollte in den Geschichtsbüchern vermerkt werden.
Martin Koch, Philosoph, lebt in Berlin